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Die Arbeit der Nachfolger Westermanns in Indien

Während ihrer Besuche berichteten Cheenath und Bilung bei verschiedenen Gelegenheiten über die Situation der katholischen Kirche und Mission in Indien.

Die Steyler Missionare sind inzwischen seit über 70 Jahren im ostindischen Bundesstaat Orissa tätig, hauptsächlich unter den Ureinwohnern, den Adivasi. Das Hauptanliegen der Mission ist es, über Schul- und Bildungsprojekte die Zukunft der bedrohten Ureinwohner zu sichern. Orissa gilt immer noch als einer der rückständigsten Bundesstaaten Indiens - trotz seines Reichtums an Bodenschätzen und den Industrieregionen in Rourkela.

Bischof Cheenath engagiert sich mit den Spendengeldern aus Werne und anderen Städten und Ländern vor allem für den Ausbau des Schulsystems in den ländlichen Bereichen seines Erzbistums Cuttack-Bhubaneswar. Hier sind rund 250 Schulen mit 60.000 Schülern zu unterstützen. Die Spenden werden außerdem verwandt für ambulante Krankenstationen und landwirtschaftliche Projekte. Dies alles erfolgt zum Teil gegen den heftigen Widerstand fundamentalistischer Hindus, die um ihre Vormachtstellung fürchten und ein neues Selbstbewusstsein der Kastenlosen in Indien verhindern möchten. Denn die kirchlichen Projekte und Hilfsmaßnahmen gelten vor allem dieser Zielgruppe. Bei einer Eucharistie-Feier in Werne im Juli 2003 nannte Cheenath in seiner Predigt die Namen von Missionaren, die von fanatischen Hindus buchstäblich niedergemacht worden seien.

Für die Menschen in den Slums der indischen Großstädte wie Rourkela liegen die Hauptprobleme ihrer Existenz vor allem in der schlechten Trinkwasserversorgung, in Arbeitslosigkeit, mangelnden Hygienebedingungen, medizinischer Unterversorgung und fehlendem Wohnraum. Hier wollen karitative Einrichtungen wie das Sozialinstitut „Seva Sadan" Abhilfe schaffen. Leiter des Sozialinstituts ist der indische Steyler Pater John Alapatt. Alapatt wurde im Distrikt von Trichur am 7. März 1938 geboren und kam 1968 nach Rourkela.

1990 wurde er mit dem Mahatma-Gandhi-Preis der Steel Authority India Ltd. von Rourkela ausgezeichnet. Mit dieser Auszeichnung würdigte die Firma Alapatts Verdienste um die Verständigung zwischen rivalisierenden Volksgruppen, um Verbrechensprävention sowie um Förderung des Gesundheits- und Bildungswesens. „Sie haben die Herzen der Slumbewohner gewonnen, indem Sie mit ihnen mitfühlten und ihre Bedürfnisse und Wünsche verstanden haben. Sie haben in Ihnen ein Gespür für moralische Werte, für Hygiene und den Glauben in die Würde der Arbeit erweckt", heißt es in der Ehrenurkunde. Alapatts Einsatz für Arme - unabhängig von Kasten- und Religionszugehörigkeit - habe sehr zum Ansehen der Kirche in der Region beigetragen.

Der Pater wird von einer Gruppe aus Ärzten, Beamten, Lehrern und Angestellten des Stahlwerks unterstützt, die sich 1976 in einem Verein für öffentliche Wohlfahrt zusammengeschlossen haben. Die Community Welfare Society (CWS) ist dem Sozialinstitut „Seva Sadan" angegliedert. In diesem Projekt arbeiten neben Steyler Missionaren und Steyler Missionsschwestern auch Hindus, Muslime, Industriemanager und Slumbewohner.

In vier Slums am Rande von Rourkela nehmen sie sich vor allem der Elendssiedlung Sopabandhupalli mit ihren 4.000 Bewohnern unterschiedlicher Kasten, Herkunft und Religion an. Zielsetzungen der CWS sind, die Lebensqualität der Slumbewohner zu verbessern, sie in ihren Rechten und Pflichten zu bestärken und sie zu Eigeninitiative zu motivieren. Weiter fördert der Verein die Emanzipation der Frauen und die Bildung der Kinder und Jugendlichen.

In den rund 20 Jahren seines Bestehens hat die CWS verschiedene konkrete Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Slums initiiert. So wurden in verschiedenen Slumvierteln über 100 Brunnen gebaut, um das Trinkwasser-Problem zu lösen. Gleichzeitig wurden Abwasserkanäle verlegt, um die hygienischen Bedingungen zu verbessern. Es gibt ein Gesundheitsprogramm, an dem verschiedene Ärzte freiwillig mitarbeiten. Unter anderem verfügt die Organisation seit 1996 über einen mobilen Gesundheitsdienst für 22 Slumviertel. Zweimal pro Woche besucht ein Ambulanzfahrzeug diese Viertel und versorgt dort jeden Monat rund 1.000 Patienten. Pro Arztbesuch werden zehn Rupien (20 Cent) berechnet.

Seva Sadan3

Als die CWS Mitte der 70-er mit ihrer Arbeit anfing, besuchten gerade mal fünf Prozent der Kinder in den Slums eine Schule. Rund 20 Jahre später sind es 60 Prozent. Außerdem richtete das Wohlfahrtsinstitut drei Kinderhorte in den Slums ein. Diese entlasten die Eltern, die täglich arbeiten müssen und ermöglichen den älteren Kindern, die sonst auf die kleineren Geschwister aufpassen müssten, den Schulbesuch. Weiterhin hat die CWS berufsorientierte Trainingsprogramme wie Nähen, Maschineschreiben, Stenografie initiiert. So unterhält das Institut zwei Schneiderschulen mit jeweils rund 50 Schülerinnen und Schülern sowie ein Zentrum für arbeitslose Jugendliche.

Die CWS hat auch ein Programm zur Stärkung der Frau in der Gesellschaft ins Leben gerufen. In allen Teilen der Slums sind Frauenvereinigungen aktiv. Sie kontrollieren antisoziale Aktivitäten in den Slums und nehmen teil an Therapieprogrammen zur Emanzipation der Frauen. Aufgrund des Kastenwesens und traditioneller Vorstellungen werden Frauen in der indischen Gesellschaft auch heute noch oft unterdrückt. Oft sind sie auch Gewalttaten ausgeliefert. Für Männer und Frauen veranstaltet die CWS regelmäßig Seminare zu Themen wie Rechtsberatung, Alkoholismus, Gesundheit und Hygiene, außerdem zur Familienplanung, Sparen und Gewalt gegen Frauen. Durchschnittlich nehmen 60 Personen an diesen Seminaren teil. Eine andere Form, die Menschen in den Slums zu informieren und aufzurütteln, ist das Straßentheater. Die CWS entdeckte dieses Mittel der Kommunikation Ende der 90-er Jahre. Eine Gruppe von Jungen und Mädchen wurde professionell hierfür geschult und zeigt nun spielerisch soziale Probleme wie zum Beispiel Gewalt gegen Frauen auf. Allein bis 2002 wurden über 270 Straßentheaterprogramme an verschiedenen Orten in den Slums veranstaltet.

Die CWS verfährt nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Ihre Programme sind so angelegt, dass die Slumbewohner in die Finanzierung, Planung und Organisation miteinbezogen werden. „Es genügt nicht, wenn nur ein paar Leute das Prinzip der Zusammenarbeit befolgen. Wir müssen die Massen erreichen wenn sich in der Stadt etwas ändern soll", begründet John Alapatt dieses Verfahren. So vergibt das Institut Kleinkredite an Arbeitslose, die sich selbstständig machen wollen oder stellt Materialien und fachkundige Anleitungen zur Verfügung.

Eines der größten Projekte der CWS war zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Initiative für ein Krankenhaus in Rourkela. Die Mitglieder des Sozialinstituts und der CWS sehen dieses Hospital für die Armen der Industriestadt als Krönung ihrer Arbeit. Das CWS-Hospital hat 50 Betten und acht Abteilungen, darunter Chirurgie, Innere Medizin, Pediatrie, Haut- und Geschlechtskrankheiten, Augenabteilung. Das Krankenhaus ist mit moderner medizinischer Ausrüstung ausgestattet. Trotzdem sind die Behandlungskosten für die Patienten sehr gering. Während die privaten Krankenhäuser in der Stadt alle ein Minimum von 100 Rupien (umgerechnet zwei Euro) verlangen, nimmt das CWS-Krankenhaus nur 50 Rupien (ein Euro). Für Fachärzte berechnet das Krankenhaus statt 120 nur 60 Rupien. Auf diese Weise können sich die Armen die Behandlung im Krankenhaus leisten. „Nicht einem Patienten wurde bisher die Behandlung aufgrund eines Mangels an Geld verweigert", so Pater John Alapatt. Am 5. Oktober 2004 berichtete Alapatt an Wilhelm Lülf: „Das Hospital läuft gut. Wir haben eine Phase erreicht, in der das Einkommen des Hospitals unsere täglichen Ausgaben deckt." Um die medizinische Ausstattung des Krankenhauses allerdings auf einem modernen Stand zu halten, sind die Träger nach wie vor auf Spendengelder angewiesen.

Trotz aller Bemühungen von Organisationen wie dem Sozialinstitut Rourkela und der CWS gehört Indien immer noch zu einem der ärmsten Länder der Welt. 40 Prozent der Inder leben in absoluter Armut, der Analphabetisierungsgrad liegt bei über 70 Prozent, die Kindersterblichkeit bei 61 Sterbefällen pro 1 000 Lebendgeburten. Vor diesem Hintergrund forderte John Alapatt in der Steyler Missionschronik ein Umdenken seitens der Kirche - besonders angesichts der Tatsache, dass es ihr nicht wirklich gelungen sei, in Indien Fuß zu fassen. "Ich meine, [für eine Verbesserung in einem der ärmsten Länder der Welt mit Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, Kastenwesen] braucht [die Kirche] ... vor allem eine Umkehr in ihrer Haltung gegenüber Nichtchristen, das heißt, sie muß auch diese als Mitarbeiter in dem großen göttlichen Programm des Aufbaus ‘eines neuen Himmels und einer neuen Erde' akzeptieren. Bisher ist sie zu sehr auf die eigenen Leute fixiert. Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils betonen jedoch, daß es gut und richtig ist, mit allen Menschen guten Willens zusammenzuarbeiten, um eine bessere Welt aufzubauen." Alapatt betonte die Bedeutung von Projekten, in denen Menschen unterschiedlicher Kasten-, Kirchen- und Religionszugehörigkeit zusammenarbeiten. "Vor diesem Hintergrund ist die Gründung des Seva-Sadan-Sozialinstituts in Rourkela 1975 zu sehen. ... Es ist aufgebaut in dem Gedanken, daß gemeinsame Arbeit zu besserem Verständnis füreinander führt und dadurch Frieden und Respekt voreinander fördern kann."