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Westermanns Missionsalltag in Indore

 

Indore war das zweitjüngste Missionsfeld der Steyler Gesellschaft. Es lag nordöstlich von Bombay und umfasste Teile der drei Diözesen Ajmer, Allahabad und Nagpur. Ende der vierziger Jahre lebten dort sechs bis sieben Millionen Einwohner. 1935 wurde das Missionsgebiet Indore zur Apostolischen Präfektur, einem eigenen kirchlichen Verwaltungsbezirk, erhoben. An seine Spitze wurde Monsignore Peter Janser als Apostolischer Präfekt gestellt. Janser war zuvor unter anderem als Provincial Superior in Techny (USA) tätig gewesen. Anton Freitag schrieb 1948 in seinem Buch „Glaubenssaat in Blut und Tränen" über Indore: „Die Missionstätigkeit in der Apostolischen Präfektur Indore ist durchweg ein mühseliges Arbeiten in sechs ganz verschieden gelagerten Distrikten mit sehr verschiedenen Völkern, Stämmen, Kasten, Sitten und Sprachen." Hier begann Westermann seine missionarische Arbeit.

 

Nach seiner Ankunft in Indore lernte der junge Missionar zunächst einmal drei Monate lang Hindi. Dann wurde er als Kaplan einem französischem Kapuziner, Pater Egidius, in der kleinen Pfarrei Khurda im Vindhyagebirge zugeteilt. Wieder nach drei Monaten musste Westermann die Pfarrei selbstständig übernehmen.

Der Ort Khurda liegt auf einem Plateau etwa 300 Meter oberhalb des Tals von Narbada und ist auf drei Seiten von Bergen umgeben. Er ist auch heute noch ein Bischof Hermann WestermannMalariagebiet. Während der Regenzeit gibt es hier viele Moskitos, da sich das Wasser von den Bergen auf dem Plateau in kleinen Tümpeln sammelt. Außerdem leben hier viele giftige Schlangen wie Kobras und Vipern.

 

In Khurda stieß Westermann auf ein gesellschaftliches Phänomen, das seine missionarische Tätigkeit erschwerte. Das Dorf hatte eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. Noch um 1900 gab es an dieser Stelle nur Dschungel. Anfang des 20. Jahrhunderts dann errichteten zwei Missionare dort ein Waisenhaus für Kinder, die eine große Hungernot überlebt hatten. Die Waisenkinder kamen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und gehörten unterschiedlichen Kasten an. Später verheirateten die Missionare die erwachsenen Waisen untereinander und siedelten sie um das Waisenhaus herum an. Durch diese Heiraten verloren die Waisen ihre ursprüngliche Kastenzugehörigkeit. Für die Bewohner der umliegenden Gegenden waren sie daher mit dem Makel der Kastenlosigkeit behaftet. Und dieser Makel übertrug sich nun auch auf die Missionare, die in Khurda beheimatet waren.

Westermann selber schrieb 1977 in einem Artikel für „Kirche und Leben": „Ich habe [im Vindhyagebirge] schöne Jahre verbracht, in denen ich mich besonders dem Studium der Hindisprache und der indischen Literatur widmete, aber mit meinem Hauptanliegen kam ich nicht weiter. ... Trotz meiner ... Anstrengungen zeigten sich in der näheren Umgebung von Khurda keine Bekehrungsmöglichkeiten. So entschloß ich mich, etwa 35 km weiter am Fuße des Vindhyagebirges in der Nimarebene mit der Missionsarbeit zu beginnen. Die Anfänge waren schwer und mühevoll, aber es glückte mir doch nach einiger Zeit, das Vertrauen der Leute zu gewinnen. Es stellten sich allmählich in verschiedenen Dörfern die ersten Bekehrungen ein." Westermann beschaffte sich ein Motorrad, mit dem er einmal in der Woche in das rund 30 Kilometer entfernte Narbadda-Tal fuhr. Der Narbada, auch Narmada genannt, ist ein rund 1.300 Kilometer langer Fluss, der durch die Tiefebene von Nimar fließt, in dem Einschnitt zwischen dem Vindhya- und dem Satpuragebirge. Für die Hindus ist er einer der heiligsten Flüsse Indiens. In diesem Gebiet lebten die Bhil, ein Volk, das zu den Ureinwohnern Indiens zählt. Die Bhil betreiben Landwirtschaft, ihre religiösen Bräuche sind durch den Hinduismus beeinflusst. Heute leben in Indien etwa 3,7 Millionen Bhil.

 

Im Narbadda-Tal zog Hermann Westermann mit einem Katechisten von Dorf zu Dorf. Allerdings mussten sie oft erst vor einem Dorf unter Bäumen campieren, bis ihnen der Zufall zu Hilfe kam: Meist waren es Notfälle, bei denen Westermann mit medizinischen Ratschlägen oder Medikamenten helfen konnte, die ihm Zutritt zum Dorf verschafften. „Der Wunsch nach Arznei öffnete mir auch manche Tür, über deren Schwelle ich sonst wohl nie hätte schreiten dürfen", schreibt Westermann in seinem Bericht über eine Fahrt ins Nimar-Tal im Steyler Missionsboten 1936.

 

Eine Reihe von kurzen Berichten Westermanns in der Steyler Chronik geben Einblicke in die missionarischen Tätigkeiten jener Jahre - vor allem Glaubensverkündung, Seelsorge und Krankenpflege. Aus den Berichten ergibt sich, dass die Missionsarbeit oft eine anstrengende Kleinarbeit war. Mühsam errungenen Erfolgen, meist verbunden mit großen körperlichen und geistigen Anstrengungen, standen viele Rückschläge gegenüber. „Da hat man sich angestrengt und meint, jetzt müßte es klappen und es klappt doch nicht. Und bei einer anderen Gelegenheit hat man augenscheinlich nichts getan, und auf einmal erlebte ich in der Mission, daß sich die Leute bekehrten", sagte Westermann rückblickend im Gespräch mit Dr. Günther Mees.

 

Die Berichte des jungen Missionars in der Steyler Chronik sind sehr lebendig und anschaulich geschrieben. Gelegentlich zeigen trockene Kommentare, dass ihr Verfasser sich bemühte, seine aufreibende Arbeit mit Humor und einer gewissen Nüchternheit zu sehen. Am 12. August 1935 berichtete Westermann, dass er bald mit der Arbeit im Nimargebiet anfangen möchte. Er warte nur noch auf die Erlaubnis der Regierung in Dhar, in deren Gebiet er den Anfang mit einer Schule machen möchte. Doch obwohl er bereits vor vier Wochen schriftlich um diese Erlaubnis gebeten habe, habe er noch immer keine Antwort erhalten. Ironisch kommentierte er: „In Indien geht alles sehr langsam. Die Indier [!] glauben nicht umsonst an die Wiedergeburt. So haben sie immer Zeit. Ist dieses Leben am Ende, fängt ein neues an."

 

Anfang des Jahres 1939 gab es eine Grippewelle in Westermanns Pfarrbezirk. Er musste viele Versehgänge machen, bei denen er oft stundenlang bei den Kranken blieb. Viele Kranke hatten offenbar ihre Grippe verschleppt. Oft kam dann noch eine Lungenentzündung hinzu. „Dabei sind die Leute so unterernährt, daß sie wenig Widerstandskraft haben, oder vom Malariafieber so zermürbt, daß sie einen solchen Stoß nur schwer vertragen", so Westermann. Viele Menschen würden sich auch nicht nach den medizinischen Anweisungen richten - zu schnell aufstehen, wenn sie sich etwas besser fühlten oder essen, was ihnen in den Sinn käme. „Es ist wirklich bisweilen nicht leicht, immer die Geduld zu wahren", schrieb Westermann diesmal entnervt unter seine Darstellung.

Indore war in den 30-er Jahren ein unerschlossenes Gebiet. „In der Regenzeit ist überhaupt nichts zu bekommen, denn die Wege sind grundlos", heißt es in Westermanns Bericht vom 3. Febr. 1939. Über zwei Monate war der Missionar während dieser Regenzeit in seiner Station „gefangen" - ohne Möglichkeit, in die nächstgelegene Stadt Khandwa zu gelangen. Schlechte Verkehrsverhältnisse und weit verstreute Siedlungen machten die Glaubensverkündung und Seelsorge oft zu einem Abenteuer. Auf seinen Fahrten ins Narbadda-Tal musste Westermann sein Motorrad über scharfe Kurven auf abschüssigen Straßen steuern. Manche Wege waren nicht mehr als Ochsenkarrenpfade und entsprechend holprig. So kam es schon mal vor, dass Westermann mitten im Dschungel mit seinem Motorrad liegen blieb.

 

In den Dörfern begegneten viele Bhils dem Missionar und seinen Helfern anfänglich mit großem Misstrauen. Die meisten Dorfbewohner hatten noch nie einen katholischen Missionar gesehen. In einem Fall berichtete Westermann: „So grübelten sie, was der Europäer denn eigentlich vorhabe. Und bald fanden sie auch eine Lösung." Es kamen Gerüchte auf, dass der Missionar ein Spion britischer Soldaten sei. Denn in jenen Wochen lagen englische Regimenter in einem Feldlager nahe beim Dorf und zogen von dort aus jeden Tag zu Schießübungen in den Dschungel. Westermanns Wirtin gelang es allerdings, die Dorfbewohner zu beruhigen und ihnen klarzumachen, dass der Deutsche nichts mit den britischen Soldaten zu tun habe. „So stellten sich denn auch hier bald viele Kranke ein, die sich um Rat und Arznei an mich wandten", schließt Westermann diesen Bericht in der Steyler Chronik.

 

Immer wieder gab es Rückschläge bei der Bekehrung der Bhil. So hatte Westermann an einem Sonntag im Sommer 1935 zwei Bhilfamilien zur Taufe durch Monsignore Janser geladen. Doch die Täuflinge bekamen buchstäblich im letzten Moment kalte Füße und ließen Westermann ausrichten, „sie wollten lieber noch etwas warten". Resigniert kommentierte der Missionar: „Und vorher hatten sie mir noch versichert, sie wollten sich lieber den Kopf abschlagen lassen als feige zurückzuspringen. Nur ‚süße‘ Worte, wie man hier sagt."

Derartige Rückschläge waren für Westermann umso ärgerlicher, als es ihm darum ging, die Zahl der Christen möglichst schnell zu vergrößern. Dies hatte weniger religiöse als praktische Gründe. Denn von Seiten der indischen Priesterkaste, der Brahmanen, gab es offenbar erhebliche Widerstände gegen die Arbeit der christlichen Missionare. Dies zeigt ein Bericht Westermanns vom Dezember 1937. Darin schrieb er, dass die Vorbereitungen für die Taufen von sechs Bhils zunächst schnell und heimlich ablaufen sollten. Westermann befürchtete nämlich, das „unsere Gegner, besonders von der Zunft der Zauberer und Brahmanen, einen Sturm entfachen und wie in Khurda letztes Jahr unsere ganze Arbeit vernichten. Ist die Zahl der Christen größer, haben wir nichts mehr zu fürchten, zumal wir Anhänger unter den höheren, einflußreichen Kasten haben."

 

Im Bericht vom 9. November 1937 bringt Westermann noch ein ganz anderes Problem zur Sprache - die konkurrierende Mission sog. „Sektenchristen". Einer ihrer Katechisten versuchte sogar, Westermann aus seinem Haus zu verdrängen. Er bot dem Vermieter, einem „geldgierigen Brahmanen" eine höhere Miete, als sie der Steyler Missionar zahlte. „Meine Lehrer aber haben dem Brahmanen ordentlich den Marsch geblasen, als dieser eine erwünschte Mietserhöhung andeutete."

 

Doch trotz aller Schwierigkeiten machte Westermann mit seiner Missionsarbeit Fortschritte. Die getauften Bhils warben in ihren Heimatdörfern für den christlichen Glauben. So konnte Westermann zum Beispiel im Dezember 1937 sechs Bhils taufen, die zuvor von vier „Neuchristen" vorbereitet worden waren. Für den Fortgang des Bekehrungswerks waren auch die religiösen Hierarchien der Bhil von Bedeutung. So bekamen Westermanns Katechisten im Herbst 1937 über einen getauften „Bala" - von Westermann als Götzenpriester definiert - Kontakte zu einem neuen Dorf. „Der alte Herr, der seinen ganzen Einfluß für uns aufbietet und eifrig predigt, hat meine Katechisten mit in jenes Dorf genommen und sie den Heiden als seine ‚Jünger‘ vorgestellt, da wurden sie natürlich mit offenen Armen aufgenommen und konnten ungehindert über den katholischen Glauben sprechen. Die Leute bewirteten die Glaubensprediger gut und entließen sie mit dem Wunsch, bald wiederzukommen und ihnen noch mehr zu erzählen", schrieb Westermann im Ende des Jahres 1937 nach Deutschland. „An die Frauen können wir augenblicklich noch nicht gut herankommen, da die Frauen meiner beiden Katechisten wegen der großen Entfernung der uns befreundeten Dörfer die Leute schlecht besuchen können."

 

Im Februar 1939 konnte der Missionar dann berichten, dass er inzwischen in drei Dörfern im Narbadda-Tal Häuser für seine Katechisten hatte. In einem vierten Dorf hatte er vom Dorfoberen ein Stück Land erhalten, auf dem er ein Lehrerhaus bauen wollte. Bei den Häusern handelte es sich offenbar um kleine Lehmhütten, die allerdings im Unterschied zu den üblichen Häusern der Gegend Fenster hatten.

 

Westermanns Verhältnis zur indischen Bevölkerung war grundsätzlich von Achtung und Offenheit geprägt. Der Deutsche besaß großen Respekt vor der indischen Kultur und wirkte in diesem Sinne auch immer auf neue Missionare. So galt sein Interesse neben dem Sprachstudium auch der Völkerkunde seines Missionsgebiets. Beeinflusst war er hierin wahrscheinlich durch die völkerkundlichen Schriften des Steyler Paters Wilhelm Schmidt, dem Begründer der Wiener Ethnologischen Schule. Im Gespräch mit Dr. Günther Mees für dessen Buch „Menschen mit Profil" sagte Westermann, dass er sich unter den einfachen Bauern im Nimartal wohl gefühlt habe. „Wenn man sieht, wie fromm die Hindus sind, ist man als Christ betroffen. Wer sich ihnen offen und vorurteilsfrei anschließt, kann leben wie einer von ihnen ... sie [nehmen] einen offen, selbstlos und gastfreundlich an."

 

In der Steyler Chronik schrieb Westermann im August 1936, dass einige Inder „aus eigenem Antrieb Geld für ein Hochamt gesammelt [haben], um Regen zu erflehen". Die Regenzeit war bis dahin nämlich ziemlich trocken ausgefallen und die Bauern fürchteten um ihre Ernten. „Während der Messe, bei der das ganze Dorf zugegen war, fing es plötzlich an zu regnen." Bei einer anderen kirchlichen Feier im Sommer 1935 waren „auch die heidnischen Nachbardörfer ... fast vollständig dabei." Die Messe und vor allem eine nachgeholte Fronleichnamsprozession hätten laut Westermann die Inder - getaufte wie ungetaufte - begeistert: „Die Indier [!] schwärmen geradezu für Prozessionen; darum waren meine Christen mit Leib und Seele dabei."

 

Das indische Kastenwesen stieß bei Westermann allerdings auf völliges Unverständnis. Dieses Kastenwesen ist eine Besonderheit der indischen Gesellschaft. Irgendwann zwischen 200 v. Chr. und 100 n. Chr. schafften priesterliche Gesetzgeber vier große gesellschaftliche Gruppen (Kasten), die im Prinzip heute noch so bestehen. Ihre eigene Priesterklasse stellten sie als Brahmanen an die Spitze dieser Ordnung. An zweiter Stelle standen die Krieger (Kschatrija), gefolgt von den Bauern und Händlern (Waischia). Zur vierten Kaste gehören die Arbeiter oder Diener (Schudra). Weit unter diesen stehen - völlig außerhalb der Gesellschaftsordnung und auf die Verrichtung der niedrigsten und unangenehmsten Dienste beschränkt - die Kastenlosen, die Unberührbaren. Hierzu zählen auch Menschen, die wegen religiöser oder sozialer Vergehen aus ihren ursprünglichen Kasten ausgestoßen wurden. Die Kastenordnung ist Bestandteil der hinduistischen Religion und wird als göttliche Ordnung gerechtfertigt. Die ursprüngliche Kastenordnung war sehr streng. Die lebenslange Kastenzugehörigkeit eines Inders wurde durch seine Geburt bestimmt. Söhne waren verpflichtet, den Beruf des Vaters zu ergreifen. Die Kastenordnung beschränkte außerdem soziale Kontakte und Eheschließungen auf Mitglieder der eigenen Kaste.

 

Im Laufe der Zeit weichten diese starren Schranken zwischen den Kasten auf. Unter anderem spielten dabei die Verbreitung des Buddhismus, aber auch die Einflüsse britischer Herrschaft eine Rolle. Nach der Unabhängigkeit Indiens legte die Verfassung die Beseitigung des jahrhundertealten Kastensystems fest: „Unberührbarkeit ist abgeschafft und ihre Praxis jeder Art ist verboten." Staatliche Programme sollten die gesellschaftliche Stellung besonders der unteren Kasten und der Kastenlosen verbessern. In den letzten Jahren hat sich Indien immer mehr zu einer Konsumgesellschaft entwickelt, in welcher der Status mehr auf materiellem Besitz als auf Familie und Tradition beruht. Dadurch ging die Bedeutung des Kastenwesens weiter zurück. Dennoch prägt dieses System die indische Gesellschaft nach wie vor und verhindert immer noch den sozialen Aufstieg besonders der unteren Schichten (siehe auch „Die Arbeit der Nachfolger Westermanns in Indien").

 

In den ländlichen Gebieten, in denen Westermann vor dem 2. Weltkrieg wirkte, war die Kastenordnung eine unbestrittene gesellschaftliche Tatsache. Über seine eigene Integration in die örtliche Kastengesellschaft schreibt Westermann: „Da man weiß, daß ich von den unteren Kasten kein Essen annehme und auch sonst die Kastenvorschriften beobachte, achtet man mich zwar, weiß aber doch nichts Rechtes mit mir anzufangen, da ich keiner bestimmten Kaste angehöre. Man sieht mich darum auch nicht als gleichwertig an." Als Außenstehender musste er im Verkehr mit seinen Katechisten, die einer Kaste angehören, sehr vorsichtig sein. Er durfte zum Beispiel nicht in die Nähe von dessen Herdfeuer oder Wasserkrüge kommen, um diese nicht zu „verunreinigen". Viel Verständnis für dieses gesellschaftliche Phänomen brachte der deutsche Missionar nicht auf: „Und [ich] muß noch sonst allerlei Tamtam mitmachen. Es ist zum Lachen, wenn man sich die Sache mal richtig überlegt und doppelt lächerlich, wenn man sieht, mit welchem Ernste sogar sogenannte Gebildete sich daran halten." Dennoch akzeptierte Westermann das indische Kastenwesen als Tatsache: „Für uns Missionare gilt noch immer der Paulinische Grundsatz - auf Indien angewandt: ‚Den Indern wurde ich ein Inder.'" Dass dieser Grundsatz auch für Westermanns Missionsarbeit galt, wurde später von verschiedensten Seiten immer wieder gerühmt.

 

An anderer Stelle berichtete Westermann in der Steyler Chronik von einer Zeremonie, mit der einer seiner Katechisten in seinem Dorf „in die Kaste" aufgenommen worden war. Dabei nahmen die versammelten Kastenmitglieder Wasser von seiner Hand und rauchten mit ihm. „Für diesen Spaß bezahlten er, oder richtiger gesagt ich, ganze zehn Gulden, die diese Kerle in Branntwein umsetzten. Hätten sie gewußt, daß ich dahintersteckte, hätten sie sicherlich noch viel mehr verlangt", schrieb Westermann etwas ungehalten. Obwohl es ihm um die Geldsumme leid tat, befürwortete er die Ausgabe: „Denn durch die Aufnahme des Lehrers in die Kaste ist den andern Kastenmitgliedern der Weg zur Bekehrung freigemacht." Niemand brauche jetzt mehr den Ausschluss aus der Kaste zu fürchten, wenn er katholisch würde.

 

Die Berichte aus Indore geben auch Aufschlüsse über die Lebensverhältnisse der Missionare. So bat Westermann im August 1935 um eine Zentrifuge: „Seit einem Monat kaufen wir hier bei den Leuten Milch auf, rahmen sie ab und buttern. Diese Butter lassen wir in Mhow verkaufen. Dadurch helfen wir den Leuten, die sonst nicht wissen, was sie mit ihrer Milch anfangen sollen." Weiter vermerkte er, dass für die Missionare von der Butter auch noch etwas abfalle. Diese Selbstversorgung sei umso wichtiger, „da wir ja aus der Heimat kein Geld mehr erhalten". Westermann nennt an dieser Stelle keinen Grund für den versiegenden Geldfluss aus Deutschland. Dies scheint allerdings ein grundsätzliches Problem der deutschen Mission in Indien gewesen zu sein. 1936 beschrieb ein Missionar in der Steyler Chronik die finanzielle Situation in seiner Missionsstation: „Wir [müssen] in unserer Mission mit 25 Reichsmark auf den Kopf im Monat auskommen. Und das ist noch der Höchstsatz. Viele Stationen erhalten weniger. So hörte ich von einer Station, daß sich die Mitbrüder dort mit je 8 Mark im Monat durchschlagen müssen."

 

Die Ernährung der Missionare war oft ausgesprochen karg. So bedankte sich Westermann einmal in der Steyler Chronik für eine Sendung von Lebensmitteln aus Deutschland, darunter Suppenwürfel, ohne die er und seine Mitstreiter „die meiste Zeit des Jahres bloß Wassersuppe" hätten essen können. Es sei im Dschungel sehr schwer, an Fleisch zu kommen, da in den Dörfern nicht geschlachtet werden dürfe. Die nächste Stadt war zu weit entfernt, um das Fleisch unverdorben durch das tropische Klima zu transportieren. Insgesamt schien die Ernährung der Missionare in dieser Zeit nicht nur wenig abwechslungsreich, sondern zum Teil sogar mangelhaft gewesen zu sein. Der Käse in der Lebensmittelsendung „hat uns für viele Tage das trockene Brot schmackhaft gemacht und eine wohltätige Abwechslung in das ewige Einerlei gebracht." Als sei ihm bewusst geworden, dass er in diesem Schreiben etwas zuviel über das Essen geklagt hatte, endete Westermann diesen Absatz mit den Worten: „Aber nun, man soll ja nicht soviel über das Essen reden! Das ist ja nicht die Hauptsache." Neben der mangelhaften Ernährung hatten die Missionare auch mit Krankheiten, vor allem mit Malaria zu kämpfen. Westermann behandelte sich selber manchmal offenbar mit Radikalkuren. „Ich schluckte in meiner Verzweiflung eine Chininpille nach der anderen", heißt es in seinem Bericht über eine Fahrt ins Nimartal (Steyler Missionsbote 1936).

 

Westermann kam zu der Erkenntnis, dass er „bei diesen schlechten finanziellen Aussichten notgedrungen sehen [musste], sich langsam von daheim unabhängig" zu machen. Mehrfach berichtete er in der Steyler Chronik über die Entwicklung seiner Landwirtschaft von rund 120 Morgen. Auch hier fehlten allerdings die finanziellen Mittel, um sich landwirtschaftliche Geräte nach europäischem Standard anzuschaffen. Mit der Feldwirtschaft vor Ort war es anscheinend nicht weit her. Die „primitive Art der Bewirtschaftung" brachte nicht viel ein. Zwei Sensen, die Westermann angeschafft hatte, galten unter den ansässigen Bhil als „eine Neuheit". Einige Bhil hatte der Deutsche als Knechte angestellt, die sich mit ihren Familien bei den Missionaren allmählich zu Hause gefühlt hätten. Zwar sagte er über seine landwirtschaftlichen indischen Helfer: „Die indischen Knechte arbeiten nicht, wenn keiner sie antreibt." Aber er sah in ihnen auch eine neue Möglichkeit der Bekehrung. Ein paar von ihnen hätten sogar ab und an den Gottesdienst besucht und sich nach den christlichen Glaubenswahrheiten erkundigt. Westermann hoffte daher, dass der „eine oder andere" zum Christentum übertrat. „Sollte das der Fall sein, dann hätte ich ja endlich für Khurda ein wirksames Missionsmittel gefunden. Die Außenschulen und die Werbearbeit der Katechisten haben hier versagt; ich wußte kaum noch, was ich anfangen sollte. Es wäre zu schön, wenn nun die Farm mich aus der Verlegenheit reißen könnte. Ich würde dann noch viel mehr Land nehmen und noch mehr Knechte einstellen. ... Ich bin sonst nicht so sehr für Landwirtschaft begeistert, dafür geht man nicht in die Mission."

 

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