Als Missionar in Indore (1932 bis 1950)
Die politische Situation in Indien 1932 bis 1939
Bald nach seiner Priesterweihe in Chicago brach Hermann Westermann nach Indien auf. Sein neuer Wirkungskreis war Indore, ein rund 100.000 Quadratkilometer großer Missionssprengel, 500 Kilometer nordöstlich von Bombay gelegen. Die Steyler Missionsgesellschaft hatte dieses Gebiet erst kurz zuvor von französischen Kapuzinern übernommen. Westermann war damals 27 Jahre alt. Er gehörte mit drei anderen Patres zu den ersten Missionaren, die die Steyler in das neue Missionsgebiet entsandten. Bis 1939 sollte „das Personal" im Missionsgebiet Indore auf 32 Patres und 10 Brüder anwachsen (Anton Freitag, in: Glaubenssaat).
Am 22. November 1932 gingen Westermann und seine drei Mitstreiter - Pater Aloysius Kanski, Pater Ernest Schlappa und Pater Stanislaus Wald - in Genua an Bord des Schnelldampfers „Victoria". Für die jungen Männer war es eine Fahrt ins Ungewisse. „[Damals] waren wir schlichte Neulinge und sozusagen junge Spunde. Wir sollten eine ganze Mission übernehmen, ohne eine Ahnung zu haben. Nie zuvor hatten wir eine Mission gesehen. Und niemand hat uns gefragt: Könnt ihr denn das? Doch wir haben die Sache einfach angepackt und geschmissen. Natürlich haben wir Fehler gemacht", erinnerte sich Westermann mehr als 50 Jahre später in seinem Gespräch mit Dr. Günther Mees.
Indien war zu Beginn von Westermanns Missionstätigkeit noch britische Kolonie. Das Land befand sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis auf einige Fürstentümer unter direkter Verwaltung der britischen Krone. An der Spitze der britisch-indischen Regierung stand ein Vizekönig. Das Land war in Provinzen und Distrikte unterteilt und wurde durch den Indian Civil Service verwaltet, einem gut bezahlten Beamtenapparat, der sich nur allmählich auch Indern öffnete. Verwaltung wie auch das Finanz- und Steuerwesen, Recht und Bildung waren wie im Mutterland aufgebaut, Englisch war Amtssprache.
Die koloniale Unterdrückung und kulturelle Überfremdung durch die Engländer stießen allerdings Ende des 19. Jahrhunderts auf den Widerstand eines aufkommenden indischen Nationalismus. Getragen wurde dieser Widerstand vor allem von der intellektuellen Elite Indiens, die teilweise im Westen studiert oder die westliche Welt besucht hatte. Die einflussreichste Organisation der indischen Nationalbewegung war der 1885 in Poona gegründete Indian National Congress (INC oder Kongresspartei), der von zahlreichen prominenten Hindus und Muslimen unterstützt wurde.
Die britische Regierung reagierte auf die indischen Unabhängigkeitsbestrebungen abwechselnd mit Unterdrückung und Zugeständnissen. Sie ermöglichten unter anderem den Zugang von Indern zu höheren Beamtenposten, später auch zu den Regionalparlamenten und dem Zentralparlament. Die tatsächlichen Machtverhältnisse wurden jedoch durch diese und ähnliche Reformmaßnahmen nicht grundlegend verändert. Stattdessen gelang es den Briten, bestehende Gegensätze auf dem indischen Subkontinent - Fürsten gegen Anhänger der Nationalbewegung, Hindus gegen Moslems, Brahmanen gegen die unteren Kasten, verschiedene wirtschaftliche Interessengruppen - gegeneinander auszuspielen. Anfang des 20. Jahrhunderts kam eine neue Strömung in die indische Unabhängigkeitsbewegung: 1906 gründete sich die All Indian Muslim League (Muslim-Liga). Sie wurde getragen von der muslimischen Minderheit in Indien insbesondere von solchen Muslimen, die dem wachsenden Einfluss der Hindus, die den INC dominierten, entgegentreten wollten. Als Gegengewicht zum INC wurde die Muslim-Liga von den Briten tatkräftig unterstützt. Zwischen den Anhängern beider Organisationen kam es in den folgenden Jahrzehnten immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen.
Eine neue Qualität bekam der Widerstand gegen die Briten durch Mohandas Gandhi, genannt „Mahatma" (Große Seele). Er wurde nach dem 1. Weltkrieg der führende Kopf der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Gandhi gelang es, aus dem Nationalkongress - bis dahin eher eine Versammlung der indischen Bildungselite - eine Massenorganisation zu machen. Selbst Hindu, bemühte er sich im Kampf gegen die britische Herrschaft um den Zusammenschluss von Hindus und Muslimen, bekämpfte das Kastenwesen und führte in der politischen Auseinandersetzung neue, gewaltfreie Mittel ein: den Boykott britischer Waren, der britischen Rechtsprechung und der britischen Bildungseinrichtungen sowie die Nichtteilnahme am politischen Leben und die Ablehnung britischer Titel, die an Inder verliehen wurden. In Verbindung mit parlamentarischen Mitteln erwies sich die Bewegung als äußerst effektive Waffe im Kampf um die indische Unabhängigkeit.
Das Eintreffen Westermanns in Indien fällt in eine Zeit, als London nach dem Großen Salzmarsch von 1928 zu Verhandlungen über konstitutionelle Reformen bereit war. Der Salzmarsch war eine Kampagne Gandhis, die das britische Salzmonopol brechen sollte. Als Gandhi im Zusammenhang mit dieser Aktion inhaftiert wurde, löste dies in Kalkutta, Delhi und anderen großen Städten teilweise gewaltsame Proteste aus, denen auch Regierungsbeamte zum Opfer fielen. Die britischen Behörden griffen zu Gegenmaßnahmen. Unter anderem verurteilten sie innerhalb weniger Monate etwa 27.000 indische Nationalisten zu Haftstrafen. Jedoch konnten sie dadurch die politische Situation nicht beruhigen. Nachdem Gandhi zusammen mit anderen politischen Gefangenen wie Jawaharlal Nehru, dem Präsidenten des INC, aus der Haft entlassen worden war, vereinbarte die britische Regierung mit ihm 1931 ein Stillhalteabkommen. Darin machten die Briten aber nur geringfügige Zugeständnisse. 1935 erließ die britische Regierung eine neue Verfassung für Britisch-Indien, den Gouvernment of India Act. Die Verfassung schrieb ein föderalistisches Regierungssystem fest und gewährte den einzelnen Provinzen eine gewisse Autonomie. Sie ließ aber die Frage der vollständigen Unabhängigkeit Indiens offen.
Von diesem Tauziehender zwischen britischer Regierung und indischer Unabhängigkeitsbewegung schien Hermann Westermann in seinem Missionsgebiet Indore wenig oder gar nicht betroffen gewesen zu sein. Jedenfalls findet sich nichts darüber in den Berichten, die er in den 30-er Jahren aus Indore nach Deutschland sandte und die in der Steyler Chronik (internes Steyler Nachrichtenblatt von 1919 bis 1939) veröffentlicht wurden.